Am zweiten Rennabend der Zürcher Sixdays, im Hallenstadion Zürich-Oerlikon tanzen das Team 1 Franco Marvulli mit seinem Partner Tristan Marguet den Kollegen frisch um die Ohren. Die beiden führen das Zwischenklassement an, vor dem für viele als Favoriten gehandelten Team 6 mit Silvan Dillier und Glenn O’Shea.
Zweikampf um den Gesamtsieg
Schon nach der ersten Nacht zeichnete sich beim Zürcher Sechstagerennen ein hartumkämpfter Zweikampf zwischen Schweiz und Deutschland um den Gesamtsieg ab. Nach der Hauptprüfung am zweiten Rennabend haben Franco Marvulli und Tristan Marguet die Nase vorne. Die stärksten Konkurrenten der Publikumslieblinge sind die rundengleichen Silvan Dillier mit dem Australier Glenn O’Shea. Die Deutschen Leif Lampater und Christian Grasmann stiegen als Leader in den Abend. Doch verloren aber schon in der ersten 100-Runden-Prüfung, die von Marvulli/Marguet gewonnen wurde, eine Runde. Marvulli/Marguet gewannen nicht nur die erste Prüfung des Abends, sondern danach auch das Kilometer-Zeitfahren. Das Platzhirschduo verpassten in der anschliessenden 250-Runden-Schlacht den ersten Rang nur, weil sie im Schlussspurt hinter Danny De Ketele/Peter Schep (Be/Ho) landeten. Bei den Amateuren haben die Schweizer Stefan Küng und Théry Schir alles fest im Griff. Sie gewann auch die zweite Etappe, obwohl rund 35 Runden vor Schluss Schir stürzte und mit offenen Schürfwunden zu Ende fahren musste. Bei den Stehern gab es dank Schweizer Meister Giuseppe Azteni auch schon den zweiten Schweizer Sieg nach dem Triumph von Peter Jörg am Vortag.
Franco Marvullis Panoramablick in der Américaine
Wer zu einer Américaine mit dem Motto startet «Kopf runter und pedalen», der hofft vergeblich auf den Siegerkuss der Ehrendamen. Allein schon das Gewusel auf der Bahn mit Paaren, die sich ablösen und die unterschiedlichen Tempi zwischen den abgelösten und den sich im Rennen befindlichen Konkurrenten verlangt höchste Aufmerksamkeit. Franco Marvulli, der 31-fache Sechstagesieger, spricht von einem Panoramablick, der nötig sei, um die Übersicht nicht zu verlieren. Das bedingt einen längeren Lernprozess und längst nicht alle würden es schaff en. «Man muss in dieser technisch und taktisch wohl anspruchsvollsten Bahndisziplin ja nicht nur einen Gegner, sondern deren viele im Auge behalten, man muss ihre Stärken, zum Beispiel mit einem gemeinsamen Angriff , aber auch ihre Schwächen erkennen und ausnutzen. Man muss das Rennen lesen können und spüren, wann es günstig ist, zu attackieren», doziert der Platzhirsch vom Hallenstadion. Und gibt dafür gleich ein praktisches Beispiel: «Wenn ich in einem gegnerischen Team einen starken Sprinter zum Rivalen habe, ist es müssig, ihn in den Spurtwertungen um Punkte übertrumpfen zu wollen, die für das Klassement unter den rundengleichen Teams entscheidend sind. In diesem Fall muss ich versuchen, ihn nach Runden zu distanzieren. Der Angriff darf dabei aber nicht planlos erfolgen. Es gilt vielmehr, einen dafür günstigen Augenblick abzuwarten, zum Beispiel dann, wenn der Sprinter sich nach einer kräfteraubenden Wertung einen Moment erholen möchte.» Eine Binsenwahrheit lautet, dass ein Américaine-Paar immer nur so stark ist, wie der schwächere Partner. Der Stärkere darf aber den Schwächern keinesfalls überfordern. «Ich bin einer, der viel redet, praktisch bei jeder Ablösung. Ich muss wissen, wie es um meinen Partner steht. Denn auf sein Gesicht kann man sich nicht verlassen. Es gibt Fahrer wie zum Beispiel Alexander Aeschbach, dem sieht man überhaupt nichts an, wenn er kaputt ist. Bei andern hat man das Gefühl, sie seien auf dem letzten Zacken, sind aber total ok» erzählt Marvulli. Erstaunen tut sein Bedürfnis nach verbaler Kommunikation nicht. Er ist bekannt dafür, gerne und viel zu reden.
„Wir geniessen das Single-Leben“
Tristan Marguet, Sixdays-Partner des Platzhirsches Franco Marvulli
Marguet ist ein Name, der ursprünglich aus Frankreich stammt. Doch ich fühle mich voll und ganz als Schweizer. Nein, Franzose, das würde für mich nicht in Frage kommen. Eigentlich sagen mir alle «Titi», das ist mein Spitzname. Meine Kindheit verbrachte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester Noémi in Fribourg, wo ich als 8jähriger das Biken entdeckte. Mein Vater war schon begeisterter Radsportler. Anfänglich fuhr ich Bikerennen, als Junior dann Strassenrennen. Aber auf der Strasse bin ich nicht so der Harry Hirsch. Die Berge machten mir immer etwas zu schaffen… So zog es mich auf die Bahn. Was ich da cool finde? Das Publikum inspiriert mich total und was auch gut ist, dass es in der Halle meistens warm ist. Das kommt mir sehr entgegen – ich bin eher ein ‹Gfrörli›. Die Fahrer der Bahn sind eine Art grosse Familie, da fühle ich mich zu Hause. Vielleicht nehmen es die Fahrer in dieser Disziplin einfach lockerer, als diejenigen auf der Strasse. Am Sechstagerennen in Zürich fahre ich ja mit Franco Marvulli. Er ist einfach ein cooler Typ. Wir haben grad ein spezielles Verhältnis, denn wir führen eine Art Männer-WG. Ich wohne bei ihm. Ja, also ich habe bei ihm ein Zimmer gemietet. Meine Beziehung mit Andrea Wolf ist in die Brüche gegangen. Nach sieben Jahren die Trennung ist hart, aber ich kann gut damit umgehen. Wir haben diesen Entschluss gemeinsam gefasst. Es ist nicht einfach als Radsportler eine Beziehung zu führen. Ich bin viel unterwegs, Andrea ist als Radsportlerin ebenfalls viel unterwegs. Das kann schon mal zu Problemen führen. Aber momentan möchte ich grad keine neue Freundin. Kommt Zeit kommt Rat… Und so bin ich – wie gesagt – nun bei Franco gelandet. Er hat auch keine Freundin, und so geniessen wir das Single-Leben. Meistens sind wir nicht zu Hause. Aber manchmal essen wir am Abend gemeinsam, schauen TV oder machen Spiele mit anderen Freunden. Wir erraten dann mit Kärtchen Namen von bekannten Radprofis. Das ist immer ganz lustig. Natürlich trainieren wir auch zusammen: wir fahren in den Schwarzwald oder kurven sonst irgendwo in der Schweiz herum. Ich mag den Marvulli einfach sehr gerne. Er ist ein offener, lässiger Typ, der die Szene nicht immer ganz ernst nimmt. Vielleicht ist er manchmal etwas zu locker. Ich selber nehme den Sport sehr ernst. Die Dopingsperre letztes Jahr war für mich eine Lehre fürs Leben. So was passiert mir nie wieder! Ich achte peinlichst genau, was ich wann einnehme. Ich habe jetzt gelernt, wenn man unvorsichtig ist, kann das verheerende Folgen haben. Zum Glück hatte ich ein super Team um mich herum das mich immer unterstützte. Es war manchmal schon sehr hart, zu trainieren ohne ein Rennen zu fahren. Das geht auch mental ganz schön an die Substanz. Dass Lance Armstrong all seine Tour de France Titel wegen Dopings abgeben musste, verfolgte ich mit Interesse. Ich muss schon sagen, ich dachte immer, da ist doch was faul. Ich fand es irgendwie schade, dass alles erst jetzt rausgekommen ist. Aber es verwundert mich nicht. Denn seine Überflüge fand ich schon sehr – sagen wirs mal so – unnatürlich. Doch nun schaue ich für mich. Und ich schaue nur noch vorwärts. Nach dem Sechstagerennen in Zürich bereite ich mich mental und im Training auf die Welt meisterschaften in Weissrussland vor. Da möchte ich gut fahren. Nächstes grosses Ziel ist Olympia 2016 in Rio. Ein Kindheitstraum. Da will ich unbedingt teilnehmen, vom Traum einer Medaille möchte ich gar nicht reden. Momentan arbeite ich jeweils vormittags in einem Bikeshop in Aadorf. Das macht auch viel Spass, aber nur vom Sport zu leben wäre mal ein kurzfristiges Ziel, das ich erreichen möchte.
Auch der Nachwuchs zeigt ein attraktives Rennen – Eine Schrecksekunde für die Leader
Die zweite Etappe verdiente das Prädikat Triple-A, vergleichbar mit dem Gütesiegel in der Bankenwelt. Zwar gehörten die Tschechen Kraus/ Rugovac schon im ersten Teilstück zu den aktivsten Fahrern im Feld, die kurze Erholungszeit nach dem siegreich beendeten Sechstagerennen in Gent machte sich aber noch bemerkbar. Nicht so in Teilstück zwei. Da liessen die beiden keine Zweifel darüber offen, dass sie nicht wegen der einmaligen Ambiance in der Halle nach Zürich gereist sind. Unglaublich explosiv lösten sie sich jeweil vom Feld, doch bei dem horrenden Tempo welches die Amateure anzuschlagen fähig sind, war an einen Rundengewinn nicht zu denken. Sowohl die Leadermannschaft Küng/ Schir als auch der aktuelle Madison Europameister Matteo Alban an der Seite von Gianluca Ocanha setzten jeweils vehement nach und veranstalteten einen Rundenwirbel, welcher die schwächeren Teams an ihre Leistungsgrenze brachten. Die Spreu trennte sich schon relativ früh vom Weizen und es zeichnete sich erneut eine Entscheidung in den Sprintwertungen ab. Théry Schir rechnete wahrscheinlich nicht mit einer erneuten Attacke seines Partners und unterschätzte wohl dessen Geschwindigkeit vor der Ablösung. Zu gross war der Tempounterschied der beiden bei der Ablösung und Stefan riss Théry förmlich vom Velo. Glücklicherweise blieb dieser Zwischenfall ohne Folgen. Die sieben Vergütungsrunden bei Sturz oder Defekt reichten aus, um rechtzeitig wieder ins Renngeschehen eingreifen zu können. Mit zwei Wertungssiegen und einem dritten Platz im Schusssprint entschieden Küng/Schir auch die zweite Etappe für sich und setzten sich auch punktemässig weiter von ihren Verfolgern ab. Erfreulicherweise sind auch nach Teilstück zwei immer noch acht Mannschaften in der Nullrunde und auch die Rückstände der restlichen drei Paare halten sich weiterhin in Grenzen. Man darf gespannt sein auf die Fortsetzung des spannenden Wettbewerbes.
Stefan Küng hat es im Kopf und auch in den Beinen
Mit seinen Gardemassen von 1,92 Metern und 78 Kilogramm wäre er prädestiniert, um Eishockeyspieler zu werden. Dieser Sport fi guriert bei ihm aber nur unter Hobbys. Zum Glück, denn Stefan Küng aus Wilen bei Wil SG, der mit Théry Schir an der Spitze des U23-Sixdays liegt, zählt unter den ungeschliffenen Diamanten im Schweizer Radsportnachwuchs zu den Hochkarätigsten. Vor wenigen Tagen feierte er seinen 19. Geburtstag – in Neukaledonien. Die Reise ans Ende der Welt hätte er sich als wohlverdiente Belohnung für die bestandene Matur in Biologie und Chemie am Gymnasium in Wil geleistet. Würde man meinen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. «Ich wollte einmal drei Monate lang wie ein Profi leben, trainieren und Rennen bestreiten», sagt Küng. Eine Schnupperlehre sozusagen. Denn sein Ziel ist klar: „Ich will Profi werden“. Er hat im Nachwuchs- Team, das BMC-Boss Andy Rihs gegründet hat, um Talente optimal zu fördern, einen Zweijahres- Vertrag unterschrieben. Zudem hofft er, beim anstehenden Militärdienst für die Sportler-RS berücksichtigt zu werden. «Ich setze in den nächsten drei bis vier Jahren voll auf den Sport. Wunderbar, wenn ich den Durchbruch schaffe, wenn nicht, dann kann ich dank der Matura das Studium an einer Universität fortsetzen» sagt Küng. Drei Monate weilte er in Neukaledonien, unterbrochen von einem Abstecher nach Neuseeland. NationaltrainerDaniel Gisiger stand ihm bei der Organisation hilfreich zur Seite. «Ich durfte bei Gotte und Götti von Gisigers Sohn wohnen, die sich rührend um mich kümmerten. Als Trainer stand mir der ehemalige französische Sprint- Weltmeister Laurent Gané zur Verfügung. Zweimal pro Woche trainierte ich auf der Bahn von Noumea hinter dem Motorrad. Rennen bestritt ich aber ausschliesslich auf der Strasse, wovon ich eines gewann», erzählt Küng, bei dem auf der rechten Gesichtshälfte noch die Spuren eines üblen Sturzes zu sehen sind. Zum Glück hätte er sich wenigstens nichts gebrochen, meint er dazu. Zu einem Schlüsselerlebnis wurde das Etappenrennen in Neuseeland. «Da war das Niveau wesentlich höher als in Neukaledonien. Aber der härteste Gegner war der Seitenwind vom Meer her. So habe ich wenigstens das mir zuvor unbekannte Staffelfahren gelernt», sagt Küng. Auf der Hallenstadionpiste gibt es nur den Fahrtwind. Und wenn Küng und sein Partner Théry Schir aufs Tempo drücken, muss sich die Konkurrenz sputen, um im Windschatten zu bleiben.
Zwischenstand Profis
1. 1 Marvulli Franco SUI | Targuet Tristan SUI Skoda 0 143
2. 6 Dillier Silvan SUI | O’Shea Glenn AUS Lerch & Partner 0 111
3. 7 Hondo Danilo GER | Kluge Roger GER Samsung 1 74
Zwischenstand Steher
1. 1 Atzeni Giuseppe SUI | Dippel André GER Lerch & Partner 4
2. 6 Jörg Peter SUI | Weiss Felix SUI Gueng AG 5
3. 2 Maag Thomas SUI | Aebi René SUI Planzer 8
Zwischenstand Amateure
1. 1 Küng Stefan SUI | Schir Théry SUI Mösler + Meier AG 0 25
2. 7 Caspers Didier NED | van Zijl Melvin NED U73 & Friends 0 14
3. 2 Suter Gaël SUI | van Immerseel Gert-Jan BEL Trois jours d’Aigle 0 12
Reportage A. Derungs / Quelle: www.sixday-zuerich.ch